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Svenja und Nemias

Berufsvorbereitungsjahr

«Ich gebe jeden Tag mein Bestes. Ich habe noch nie so viel verdient!»

Svenja und Nemias besuchen das Berufsvorbereitungsjahr der Migros-Gruppe. Dieses neue Angebot ermöglicht ihnen, ihre schulischen Mankos auszubügeln und erste praktische Erfahrungen in einem Unternehmen der Migros zu sammeln.

Svenja* (16): «Ich hätte auf meine Eltern hören sollen»

Svenias SMS für die Terminvereinbarung mit der Journalistin liest sich wie ein Bewerbungsbrief. Höfliche Anrede. Korrekte Gross- und Klein-Schreibung. Absätze wie aus dem Lehrbuch. Und doch hat die 16-Jährige nach der 3. Sek B keine Lehrstelle gefunden.

Warum das so ist, weiss sie auch nicht genau. Vielleicht lag es daran, dass sie aufgrund von Corona nicht schnuppern und sich persönlich vorstellen konnte? Die lange Zeit im Homeschooling war für ihre ganze Klasse nicht einfach, erzählt sie. Ihr Lehrer hat zwar allen bei ihren vielen Bewerbungen geholfen, doch manchmal dauerte es drei Wochen, bis er sich mit einem Feedback melden konnte. Und dann war die Lehrstelle schon weg. Auch die Inputs ihrer Cousine und der besten Kollegin fruchteten offenbar nicht. Svenja wurde zu keinem Bewerbungsgespräch eingeladen.

Heute würde sie ihren Motivationsbrief anders formulieren. «Jeder bezeichnet sich als hilfsbereit», sagt sie. Stattdessen würde sie nun schreiben: «Ich bin pünktlich, teamfähig und lerne schnell.» Ausserdem würde sie ihre Unterlagen mit einem Titelbild ergänzen. «Das weckt Interesse.»

Montag und Dienstag besucht Svenja heute die Fachschule Viventa. Dort arbeitet sie an ihren schulischen Schwächen, wie Geometrie und Bruchrechnen. Oder Gross- und Kleinschreibung. Hält Präsentationen. Und lernt, sich richtig gut zu bewerben.

Sie schätzt die klare Aufteilung: dass sie jeweils Anfang Woche die Schulbank drückt und dann den Rest der Woche arbeiten geht. Klappt es mit der KV-Lehrstelle, wird sie nächsten Sommer beim Migros-Genossenschafts-Bund zur Fachfrau Kundendialog ausgebildet. Schon jetzt übernimmt sie entsprechende Aufgaben.

So kümmert sie sich bereits selbstständig um Reklamationen der Kundinnen und Kunden. Bemängelt jemand, dass sein Lieblingskäse aus seiner Stammfiliale verschwunden ist, klärt Svenja ab, warum und empfiehlt mögliche Ersatzprodukte. Kritisieren mehrere Leute die Qualität desselben Produkts, degustiert auch sie das offenbar zu saure Olivenöl. Seit kurzem erfasst sie auch neue Artikel im System. Das macht sie noch etwas nervös, denn ein Fehler würde sich bis ins Verteilzentrum auswirken. Sie ist froh, dass ihre Vorgesetzte ihr dabei noch über die Schultern schaut. Auch eine Coachin tauscht sich regelmässig mit ihr aus und ist für alle möglichen Probleme, allenfalls auch persönlich, für sie da.

In diesem Setting fühlt sich Svenja gut aufgehoben. Manchmal stresst sie aber der Gedanke, dass alles, was sie macht, registriert wird. Sollte sie einmal zu spät in die Schule kommen, wüssten auch ihre Vorgesetzte und die Coachin sogleich davon.

Svenja ist ziemlich sicher, dass sie die Lehrstelle erhalten wird. Dafür kämpft sie auch. «Ich gebe nun jeden Tag mein Bestes», sagt sie. Ein Ziel zu haben, motiviere sie. In der 3. Sek sei ihr die Bedeutung ihrer Noten nicht bewusst gewesen und sie hätte sich zu wenig eingesetzt. «Ich hätte auf meine Eltern hören sollen», sagt sie und zuckt mit den Schultern. Ihre Mutter ist Verkäuferin in einer Bäckerei, ihr Vater Koch. Auch weil Türkisch ihre Muttersprache ist, konnten sie Svenja im Bewerbungsprozess wenig unterstützten. Heute sind beide stolz, dass sich Svenjas Noten und ihr Verhalten im Berufsvorbereitungsjahr verbessert haben, erzählt sie. «Ihr Lächeln macht mich glücklich.»

Sie hofft, dass sie in 10 Jahren einen Job hat, der ihr gefällt und Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie gut auskommt. Nebst ihrem KV-Abschluss möchte sie bis dann auch mindestens eine Weiterbildung absolviert haben. «Ich möchte Zusammenhänge besser verstehen und weiterkommen.» Vielleicht gelingt es ihr sogar, ihre Lieblingschips (süss-sauer) ins Sortiment der Migros zu bringen?

 

Nemias* (16): «Diese Chance darf ich nicht versauen.»

Für sein Praktikum in der Logistik bei der Mibelle helfen Nemias die Fertigkeiten, die er beim Handball drei Mal die Woche trainiert: Kraft, Ausdauer, Teamgeist und klare Absprachen. Er fühlt sich sehr wohl mit seinen Kolleginnen und Kollegen, jeder helfe dem anderen. Wenn Nemias Etiketten aufklebt, Produkte scannt und einordnet, ist er in seinem Element.

Dabei hat es Ende Sommer noch schlecht ausgesehen für ihn. Er hätte sich gerne zum Dentalassistenten ausbilden lassen oder eine kaufmännische Lehre absolviert. Doch auf seine Dutzenden Bewerbungen erhielt er nur Absagen. «Die erste war richtig hart», erzählt er. Bei den folgenden habe er versucht, sich nicht runterziehen zu lassen. Er fragte jeweils nach, was er besser hätte machen können. Mal hiess es, er solle die Schreibfehler in den Bewerbungsunterlagen korrigieren, mal, man habe einen besseren Kandidaten gefunden.

Rückblickend findet er: «Ich hätte viel früher anfangen müssen mich zu bewerben, am besten schon in der 2. Sek!». Seine Kollegen in der Schule hätten alle gesagt, das mit der Lehrstelle sei voll easy. Doch das stimme nicht. Mit der Pandemie sei es zudem kaum möglich gewesen, sich persönlich zu präsentieren. Nemias ist überzeugt: «Ich hätte mich live besser verkaufen können als mit einem Stück Papier.»

Nemias geht richtig gern zur Arbeit. Dass er dafür bereits um 5 Uhr aufstehen muss, stört ihn nicht. Als sein Zug von Lenzburg nach Aarau einmal ausfiel, wollte er die Strecke joggen. In der Hoffnung, so nicht zu spät zu kommen.

Die Motivation, die er am Arbeitsplatz an den Tag legt, kann er für die Schule nicht immer aufbringen. Immer diese Verben mit ihren unlogischen Formen. In seiner Muttersprache, Bosnisch, müsse er sich über die richtigen Verben keine Gedanken machen. Oder diese Geometrie-Aufgaben, für die er im Alltag keinen Nutzen sieht.

Seine Coachin führt ihm die Bedeutung der Schule aber immer wieder vor Augen. Und Nemias weiss: «Das ist meine Chance. Die darf ich nicht versauen.»

Tausche er sich mit ehemaligen Kollegen aus der Sek aus, werde ihm bewusst: «Ich bin ein Glückspilz!» Andere absolvierten ein zehntes Schuljahr ohne Praktikum und ohne eine mögliche Anschlusslösung. Dass die Migros sich für Jugendliche wie ihn einsetzt, rührt ihn. «So viele Junge stehen ohne Lehre da. Haben sie eine Zukunft, ist das für alle gut.»

Auch die 550 Franken, die er monatlich verdient, findet Nemias super. «Ich habe noch nie so viel verdient!» Mit seinen Eltern hat er vereinbart, dass er jeweils 500 Franken aufs Sparkonto legt, sie ihm dafür 30 Franken die Woche fürs Essen geben. Damit komme er gut durch. Für die Zukunft wünscht er sich einen Job, dank dem er immer genug zu essen hat, in einer schönen Wohnung leben und die Steuern problemlos bezahlen kann.

Nemias hofft, dass er ab Sommer bei der Mibelle die Lehre als Logistiker beginnen kann. Und dann auch lernen darf, den Gabelstapler zu fahren.